Rezensionen
 
  Joachim Bauer
Selbststeuerung
Die Wiederentdeckung des freien Willens

Blessing: München, 2015
240 S.

  Dieses 2015 herausgekommene Buch des Freiburger Psychiaters und Neuropsychologen ist bereits in der dritten Auflage erschienen. Das ist, wie das Buch selbst, ein Zeichen der Hoffnung dafür, dass es heute tatsächlich so etwas wie eine starke Gegenströmung zum Mainstream des Pseudovernünftigen gibt, der es für vernünftig hält, an die Unvernunft zu glauben. Sehr ausgewogen, sorgfältig, erfreulich sachlich und dennoch leidenschaftlich engagiert begründet Bauer aus den Forschungsbefunden der Neuropsychologie, zu deren Koryphäen er gehört, dass und wie die Inthronisation der Unvernunft, insbesondere durch einige Protagonisten seines neurobiologischen Kollegenkreises, keineswegs für sich in Anspruch nehmen kann, als Norm der gegenwärtigen Kognitionspsychologie zu gelten. Die Funktionen des Präfrontalen Kortex, um die es in diesem Buch vor allem geht, sind bei einem gesunden Menschen nicht, wie das etwa die Neurobiologen Roth und Singer behaupten, untergeordnete Ergänzungen der darunter liegenden Gehirnareale, es findet auch nicht nur eine intensive Wechselwirkung zwischen beiden Gehirnregionen statt, sondern sie sind das maßgebliche Steuerungszentrum der menschlichen Bedürfnisregulation durch den neuronal dort zu lokalisierenden freien Willen. Frei ist der Wille in dem Maß, wie der Mensch im Stande ist, frei-willig und verantwortlich für die Erfüllung seiner echten Bedürfnisse zu sorgen; mithin ist Selbststeuerung identisch mit verantwortlicher Selbstfürsorge. Defizite in der präfrontalen Selbststeuerung bewirken ein übermäßige Dominanz der Gehirnteile, die sich auch in Tieren finden, die gänzlich triebgesteuert leben. Im menschlichen Verhalten zeigt sich dieses Animalische im Postulat der unverzögerten Lustbefriedigung bei niedriger Frustrationstoleranz, das von den dazu passenden Industrien mächtig gefördert wird und verheerende Gesundheitsschäden nach sich zieht: Bauer deckt sie schonungslos auf. Besonders schwerwiegend ist dabei der Befund, dass der Präfrontale Kortex von Kindern und Jugendlichen noch nicht ausgereift ist und ihnen darum eine naturgegebene Disposition innewohnt, sich von kurzfristigen Lusterfahrungen dominieren zu lassen. Mit Nachdruck betont Bauer in diesem Zusammenhang die Verantwortung der Pädagogik, denn die Ausbildung der präfrontalen Fähigkeiten benötigt das anregende, herausfordernde, ermutigende und Modell gebende erzieherische Gegenüber in einem warmen Klima persönlicher Zuwendung und Akzeptanz. Die Funktionen des Präfrontalen Kortex lassen sich durch beständiges Üben trainieren, aber das brauchen sie auch: Wenn es nicht geschieht, verkümmern sie, auf Kosten der Menschlichkeit.

04.09.2015, Hans-Arved Willberg



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     Datum der letzten Änderung: 04. September 2015